Offener Brief
Der offene Brief als PDF
2. Mai 2024
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
in Ihrem Buch „Wir“ erinnern Sie daran, dass vor 75 Jahren das Grundgesetz beschlossen und damit die „Freiheit zum Herzstück unserer Verfassung“ gemacht wurde. Als den „Leitstern demokratischer Freiheit“ benennen Sie darin das Mitspracherecht aller, wenn es um Themen geht, die die ganze Gesellschaft betreffen und diskutiert und verhandelt werden müssen. An diese Aussage knüpfen wir mit unserem Brief an.
Am 12. April verabschiedete das Parlament das Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag und zur Änderung weiterer Vorschriften. Demnächst wird es Ihnen zur Ausfertigung und Verkündung vorgelegt.
Mit dem sog. Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) und der Änderung des Personenstandsgesetzes wird unter dem öffentlichen Radar ein Paradigmenwechsel in unserem Rechtssystem vollzogen: Geschlecht als körperlich-biologische und damit rechtlich abgrenzbare Kategorie wird abgeschafft. Wer nun rechtlich als weiblich oder männlich gilt, bleibt einer nicht näher spezifizierten „Geschlechtsidentität“ überlassen.
Jede Person kann per einfacher Erklärung dem Standesamt gegenüber ihren amtlich dokumentierten Geschlechtseintrag selbst bestimmen und jährlich beliebig ändern. Das personenstandsrechtliche Merkmal „Geschlecht“ beruht folglich nicht mehr auf objektivierbaren Kriterien, sondern ist vom Empfinden einer Person abhängig.
Diese fundamentale Neuausrichtung wird ohne gesamtgesellschaftliche Debatte durchgeführt, das heißt, der von Ihnen benannte „Leitstern demokratischer Freiheit“ wird missachtet.
Die bundesweite Initiative Geschlecht zählt ersucht Sie daher mit Nachdruck, außer Ihrem formellen auch Ihr materielles Prüfungsrecht (Art. 82 Abs. 1 GG) wahrzunehmen und zu überprüfen, inwieweit dieses Gesetz den Grundsätzen ordnungsgemäßer und verfassungskonformer gesetzgeberischer Tätigkeit folgend zustande gekommen ist.
Dabei bitten wir die nachfolgenden Informationen zu beachten.
Weder für die Abschaffung des Transsexuellengesetzes (TSG) noch für die Einführung des SBGG gibt es einen verfassungsrechtlichen Auftrag. Erfüllt wird mit der Durchsetzung des SBGG lediglich die politische Zielsetzung im Koalitionsvertrag der Ampelparteien, mit der ausschließlich die Forderung der Transgender-Rechtsbewegung bedient wird, Vornamen und Geschlechtseintrag ändern zu können, ohne dabei das Procedere des TSG durchlaufen zu müssen. Die Interessen von transsexuellen und intergeschlechtlichen Männern und Frauen spielen dabei keine Rolle.
Ein Rechtsschutzinteresse der Mehrheit der Bevölkerung, das Merkmal Geschlecht allein vom Willen einer Person abhängig, also willkürlich zu machen, besteht nicht. Somit werden hier die Partikularinteressen einer Minderheit von weniger als einem Prozent der Gesamtgesellschaft über die Interessen der Allgemeinheit gestellt.
Kernstück des sog. Selbstbestimmungsgesetzes ist die „Geschlechtsidentität“. Mit dieser offenbar bewusst irreführend, weil falsch übersetzten Bezeichnung wird verschleiert, dass damit das transgenderideologische Konzept Gender Identity in unser Rechtssystem eingeschleust wird.
Gender Identity ist das theoretische Fundament von Gender Self Identification Laws (Self ID), wie sog. Selbstbestimmungsgesetze international genannt werden. Dieses Konzept beruht auf einem geschlechtsverleugnenden, auf Geschlechterklischees aufbauenden theoretischen Grundgerüst, den sog. Yogyakarta Principles, einer Art Manifest der Transgender-Rechtsbewegung.
Wie derartige Gesetze möglichst ohne Widerstand aus der Gesellschaft durchgesetzt werden können, empfiehlt das Iglyo-Dentons-Papier, eine von Juristen der internationalen Kanzlei Dentons in Zusammenarbeit mit der internationalen LGBTIQ-Jugendorganisation IGLYO verfasste Handreichung: Der Leitfaden „Only adults? Good practices in legal gender recognition for youth “[Nur Erwachsene? Bewährte Praktiken bei der rechtlichen Anerkennung des Gender für Jugendliche] empfiehlt auch, wie Kinder mit einbezogen und Gesetzestexte so formuliert werden können, dass Eltern kein Mitspracherecht mehr in Bezug auf das juristische Geschlecht ihres Kindes haben.
Die Ampelparteien sind den Empfehlungen des Iglyo-Dentons-Papiers sowohl beim Verfassen des SBGG als auch im gesamten Gesetzgebungsverfahren gefolgt, das ist offensichtlich.
Ignoriert wird die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 2017 (AZ:1BvR 2019/16), dem Personenstand Dauerhaftigkeit und Eindeutigkeit zu verleihen und seiner Änderung nur stattzugeben, wenn dafür tragfähige, glaubhafte Gründe vorliegen, da ansonsten verfassungsrechtlich verbürgte Rechte unzureichend gewahrt würden.
Ignoriert wird auch die Stellungnahme des Rechtsausschusses des Bundesrates zum Gesetzentwurf des SBGG vom Oktober 2023. Diese weist genau darauf hin, dass auf jeglichen Nachweis der Ernsthaftigkeit, Wahrhaftigkeit und Beständigkeit verzichtet wurde.
So wird mit dem SBGG die rechtliche Grundlage dafür geschaffen, dass jeder Mann, jeder Junge hürdenlos und jederzeit als männliche Person mit dem Geschlechtseintrag „weiblich“ in die soziale Gruppe der Frauen und Mädchen eindringen kann.
Der so nicht mehr auf objektiv messbaren Kriterien beruhende Geschlechtsbegriff verunmöglicht es dem Staat, seinen Verfassungsauftrag aus Art. 3 Abs. 2 S. 2 umzusetzen. Die Ungleichbehandlung der Geschlechter wird verfestigt, indem die Geschlechterklischees, auf denen das Konzept Gender Identity beruht, als gesellschaftlicher und rechtlicher Status zementiert werden, statt sie aufzulösen.
Maßnahmen, die dazu dienen, die politische und öffentliche Teilhabe und die wirtschaftliche Lage von Frauen zu verbessern, werden ad absurdum geführt. Die dafür notwendigen geschlechtsspezifischen Statistiken werden verfälscht. Opfer-Täter-Statistiken, die als Grundlage für vorbeugende Gewaltschutz-Maßnahmen dienen, sind sinnentleert, wenn in ihr Vergewaltiger als „Vergewaltigerinnen“ erfasst werden.
Das gesamte Gleichstellungsrecht sowie der Auftrag der Gleichstellungsbeauftragten werden obsolet.
Die geschlechtsbedingten, völkerrechtlich als Menschenrechte der Frau verbrieften Rechte (CEDAW) werden ausgehebelt. Diese Rechte schützen vor der Diskriminierung und sexualisierten Gewalt, der Frauen und Mädchen ausgesetzt sind, weil sie dem weiblichen Geschlecht angehören und nicht, weil sie den Geschlechtseintrag „weiblich“ gewählt haben.
Die Frei- und Schutzräume von Frauen und Mädchen werden vernichtet. Räume, die eigens zum Schutz von Frauen und Mädchen eingerichtet wurden, sind keine solchen mehr, wenn männliche Personen mit dem Geschlechtseintrag „weiblich“ Zugang dazu erhalten.
Mit dem Verweis auf die Vertragsfreiheit und das private Hausrecht (§ 6) entzieht sich der Staat seiner Verpflichtung, Frauen und Mädchen vor männlicher Dominanz und sexualisierten Übergriffen zu schützen, und wälzt die Verantwortung auf die Leiter/innen und Betreiber/innen der Frei- und Schutzräume ab. Nehmen diese ihr Hausrecht tatsächlich wahr, riskieren sie, staatlich sanktioniert zu werden, denn das strafbewehrte Offenbarungsverbot (§ 13) zwingt dazu, die Realität zu leugnen. Selbst das offensichtliche Geschlecht einer Person mit davon abweichendem Geschlechtseintrag darf nicht „offenbart“ werden.
Eine Rechtsfolgenabschätzung zum SBGG fand nicht statt. Nicht nur wurden die Warnungen und die berechtigte Kritik ignoriert, die es von WissenschaftlerInnen, JuristInnen, MedizinerInnen sowie von Frauenorganisationen gab, die von staatlicher Förderung unabhängig sind. Mit expliziter Billigung durch den parlamentarischen Staatssekretär im Bundesfamilienministerium, der Queerbeauftragter der Bundesregierung ist, wurden diese Personen gar von Transgender-Rechtsaktivisten in menschenverachtender Weise generell als „Nazis“ diffamiert und Kritikerinnen des SBGG als „Hündinnen“ und „Scheißhaufen“ entmenschlicht.
Mit der kürzlich vom Bundesverband Trans*, einer laut Selbstauskunft größtenteils vom Bundesfamilienministerium finanzierten Lobbyorganisation, veröffentlichten Broschüre „Was sind TERFs?“ werden die mit diesem Schmähbegriff bezeichneten Frauen, die das sog. SBGG kritisieren, sogar quasi mit Rückendeckung der „Frauenministerin“ diffamiert. Damit ist eine Ebene erreicht, die an Volksverhetzung grenzt und in höchstem Maße demokratiezersetzend ist.
Sehr geehrter Herr Bundespräsident, bitte nutzen Sie die Autorität Ihres Amtes und lehnen Sie die Ausfertigung des sog. Selbstbestimmungsgesetzes ab.
Mit freundlichen Grüßen
Hilde Schwathe
– für die Initiative –